Mind & Meaning

In der Rubrik mind & meaning werden psychologische Themen aufgegriffen, die in Alltag, Medien und Popkultur häufig verkürzt dargestellt oder missverstanden werden. Hier geht es nicht um schnelle Erklärungen oder Coaching-Floskeln – sondern um wissenschaftliche Perspektiven, klare Begriffe und einen Blick hinter die Schlagworte. Für alle, die differenzieren möchten, wo gerade viel vereinfacht wird. Und für alle, die sich für die echten Zusammenhänge zwischen Psyche, Kontext und Entwicklung interessieren.

Cortisol – vom Stresshormon zur Popdiagnose

„Zu viel Cortisol“ – das klingt nach Reizüberflutung, Dauerstress und innerer Unruhe. In sozialen Medien wird das Hormon oft als Ursache für alles Mögliche genannt. Dabei ist Cortisol kein Störfaktor, sondern ein essenzieller Teil unseres Stresssystems. Entscheidend ist nicht, ob es da ist – sondern, wie gut es reguliert wird.

Ein Blick auf Wirkung, Funktion und warum Balance wichtiger ist als Reduktion.

Cortisol ist zunächst erstmal ein Hormon – genauer gesagt: ein Glukokortikoid, das in der Nebennierenrinde gebildet wird. Es ist lebensnotwendig und erfüllt im Körper zahlreiche zentrale Aufgaben: Es reguliert den Blutdruck, den Energiehaushalt, den Zuckerstoffwechsel und wirkt entzündungshemmend. Eine seiner wichtigsten Funktionen entfaltet Cortisol im Zusammenhang mit Stress: Wenn wir unter Druck geraten, aktiviert unser Körper die sogenannte HPA-Achse – ein komplexes neuroendokrines System, bestehend aus Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde. Das Ergebnis: eine kurzfristige Ausschüttung von Cortisol. Es sorgt dafür, dass Energie bereitgestellt, Aufmerksamkeit geschärft und körperliche Ressourcen mobilisiert werden. Kurz: Cortisol macht leistungsfähig – wenn es im richtigen Maß ausgeschüttet wird.

Die Ausschüttung von Cortisol ist Teil einer natürlichen Stressreaktion – und genau an diesem Punkt wird es spannend: Denn Stress beginnt nicht im Kopf, sondern im Körper.Wenn eine Situation als bedrohlich oder überfordernd bewertet wird, reagiert unser Nervensystem innerhalb von Millisekunden. Die Ausschüttung von Cortisol setzt meist wenige Minuten später ein – und wirkt dafür umso nachhaltiger. Cortisol hilft dem Körper, sich längerfristig an Anforderungen anzupassen. Es ist also kein „Stressgift“, sondern ein Anpassungshormon. Problematisch wird es dann, wenn die Stressoren dauerhaft anhalten – und keine ausreichende Erholung erfolgt. Dann kann es zu einer chronischen Aktivierung der HPA-Achse kommen. Das Cortisollevel bleibt erhöht, das System kommt nicht mehr zur Ruhe. Studien zeigen: Dauerhaft erhöhte Cortisolwerte können mit Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen, emotionaler Reizbarkeit und einer erhöhten Entzündungsneigung einhergehen (McEwen, 2007; Mayo Clinic, n.d.)

Die Begrifflichekiten „Cortisolüberschluss“ oder „Cortisolentgiftung“ werden in den sozialen Medien mittlerweile inflationär benutzt – meist ohne Laborwerte, medizinische Indikation oder Kontext. Und während wissenschaftlich klar ist, dass unser Körper hormonelle Schwankungen selbst regulieren kann, suggerieren viele Beiträge, Cortisol sei eine Art Störfaktor, den man gezielt herunterfahren müsse – durch bestimmte Lebensmittel, Tees oder Atemtechniken. Dahinter steht oft weniger Biologie als vielmehr ein psychologisches Bedürfnis: Kontrolle über den eigenen Zustand zu gewinnen. Daran ist nichts falsch – aber es braucht eine differenziertere Einordnung.

Cortisol kann nicht einfach „abgestellt“ werden – aber es lässt sich durch Lebensstilfaktoren beeinflussen. Vieles, was heute als neue Entdeckung vermarktet wird, ist gut erforscht: Bewegung, regelmäßiger Schlaf, soziale Beziehungen, nährstoffreiche Ernährung oder bewusste Pausen wirken regulierend auf die HPA-Achse. Auch Achtsamkeitsübungen, Atemtechniken und moderate Kältereize (wie sie z. B. durch Wechselduschen entstehen) zeigen in Studien messbare Effekte – nicht als Wundermittel, sondern als langfristige Impulse. Entscheidend ist, dass Regulation kein einzelner Moment ist, sondern ein biologischer Prozess, der auf Wiederholung basiert. (Foley & Matheis, 2020; Pascoe et al., 2017; Kox et al., 2014)

Coaching ersetzt keine medizinische Beratung – aber es kann dabei helfen, Stressmuster besser zu erkennen, innere Antreiber zu hinterfragen und neue Strategien im Umgang mit Belastung zu entwickeln. Im besten Fall entsteht daraus ein bewussterer Umgang mit Energie, Prioritäten und der eigenen Belastungsgrenze – und damit indirekt auch eine Entlastung für das Nervensystem.

Cortisol ist also nicht der Feind – sondern ein hochintelligentes Systemsignal. Es schützt, aktiviert, mobilisiert – wenn wir ihm die richtigen Rahmenbedingungen geben. Statt in Panik zu verfallen oder „zu viel Cortisol“ als Diagnose aus dem Netz zu übernehmen, hilft es, Stress besser zu verstehen. Denn Stress lässt sich nicht immer vermeiden – aber sein Einfluss auf Körper und Wohlbefinden lässt sich regulieren.

Literatur:

Foley, L. S., & Matheis, E. R. (2020). The impact of social support and stress management on cortisol reactivity in daily life. Psychoneuroendocrinology, 114, 104590. https://doi.org/10.1016/j.psyneuen.2020.104590

Kox, M., van Eijk, L. T., Zwaag, J., van den Wildenberg, J., Sweep, F. C., van der Hoeven, J. G., & Pickkers, P. (2014). Voluntary activation of the sympathetic nervous system and attenuation of the innate immune response in humans. Proceedings of the National Academy of Sciences, 111(20), 7379–7384. https://doi.org/10.1073/pnas.1322174111

McEwen, B. S. (2007). Physiology and neurobiology of stress and adaptation: central role of the brain. Physiological Reviews, 87(3), 873–904. https://doi.org/10.1152/physrev.00041.2006

Mayo Clinic. (n.d.). Chronic stress: Can it cause memory loss? Retrieved May 2025, from https://www.mayoclinic.org

Pascoe, M. C., Thompson, D. R., Jenkins, Z. M., & Ski, C. F. (2017). Mindfulness mediates the physiological markers of stress: Systematic review and meta-analysis. Journal of Psychiatric Research, 95, 156–178. https://doi.org/10.1016/j.jpsychires.2017.08.004

ADHS – Einordnung statt Etikett

Die neurologische Entwicklungsstörung ADHS hat auch abseits des Klassenzimmers einen Weg in die öffentliche Wahrnehmung gefunden. ADHS hat heute viele Gesichter, aber nicht alle davon sind zutreffend. Zwischen Erfahrungsberichten, Selbsttests und Videos über „neurodivergente Symptome“ verschwimmt dabei jedoch oft die Grenze zwischen Aufklärung und Onlinediagnostik. Was häufig fehlt: eine klare fachliche Einordnung. Denn ADHS ist keine Modeerscheinung, sondern eine neurobiologische Störung – mit spezifischen Kriterien, einem hohen Leidensdruck mit potenziell weitreichenden Auswirkungen auf Alltag, Beruf und Beziehungen. Umso wichtiger ist eine sorgfältige Differenzierung.

ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Sie zählt zu den häufigsten psychischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter – tritt aber auch im Erwachsenenalter auf, wo sie lange übersehen oder fehldiagnostiziert wurde. Im Zentrum stehen Auffälligkeiten in den Bereichen Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Aktivitätsregulation. Eine Diagnose im Erwachsenenalter ist nicht nur möglich, sondern bei entsprechender Symptomatik auch sinnvoll – vor allem, wenn die Betroffenen über lange Zeit mit innerer Anspannung, Überforderung oder Selbstzweifeln gelebt haben.

ADHS ist keine Frage von Willenskraft – sondern ein komplexes Zusammenspiel neurobiologischer Prozesse. Im Zentrum steht eine veränderte Regulation von Neurotransmittern, insbesondere Dopamin und Noradrenalin, die für Aufmerksamkeit, Motivation und Impulskontrolle wesentlich sind. Bildgebende Verfahren zeigen funktionelle Unterschiede im präfrontalen Kortex – dem Hirnareal, das für exekutive Funktionen wie Planung, Handlungssteuerung und Emotionsregulation verantwortlich ist (Arnsten, 2009; Rubia, 2018). Auch die sogenannte „Default Mode Network“-Aktivität scheint bei Menschen mit ADHS verändert – ein neuronales Netzwerk, das in Ruhe aktiv ist und bei fokussierter Aufmerksamkeit gehemmt werden sollte. Diese Abweichungen erklären, warum Reize schwerer gefiltert werden, Ablenkbarkeit erhöht ist und es Betroffenen oft schwerfällt, zwischen Handlungsimpulsen und bewusster Steuerung zu unterscheiden.

Dabei gilt: ADHS ist nicht gleich ADHS. Die Symptomatik kann sich sehr unterschiedlich zeigen – bei manchen steht körperliche Unruhe im Vordergrund, bei anderen innere Ablenkbarkeit, impulsives Verhalten oder ein Gefühl ständiger Reizüberflutung. Auch emotionale Reaktionen, Schwierigkeiten im Selbstmanagement oder ein hohes Maß an innerem Druck sind häufig. Entscheidend ist nicht ein einzelnes Merkmal, sondern das Zusammenspiel mehrerer Faktoren – und die damit verbundenen Beeinträchtigungen im Alltag. Dabei kann sich die Ausprägung der Symptome über die Lebensspanne hinweg verändern. Was im Kindesalter als motorische Unruhe sichtbar wird, zeigt sich im Erwachsenenalter vielleicht eher in innerer Rastlosigkeit, Vergesslichkeit oder einem hohen Maß an Reizoffenheit.

Aber: Unkonzentriertheit, Vergesslichkeit oder emotionale Reizbarkeit können viele Ursachen haben – etwa Stress, Schlafmangel, psychische Belastung. Eine fundierte ADHS-Diagnostik basiert deshalb nicht auf einzelnen Merkmalen, sondern auf:

– einer umfassenden Anamnese

– standardisierten Testverfahren

– dem Ausschluss anderer Störungsbilder

Coaching ist auch in diesem Kontext keine medizinische oder therapeutische Maßnahme – kann aber eine wertvolle Ergänzung sein, wenn bereits eine gesicherte Diagnose vorliegt. Im Fokus stehen dann nicht die Symptome, sondern der Umgang mit ihnen: etwa durch Strukturhilfen im Alltag, Selbststeuerung im Berufsleben oder die Stärkung von Selbstakzeptanz. Coaching kann dabei helfen, eigene Muster besser zu verstehen und neue Handlungsspielräume zu erschließen – vorausgesetzt, die Grenzen sind klar definiert.

ADHS ist ein reales Störungsbild  mit hoher Relevanz für das alltägliche Erleben, den Beruf und die Beziehungen der Betroffenen. Gleichzeitig ist der Begriff ADHS zunehmend medial präsent und wird dabei nicht immer trennscharf verwendet. Nicht jede Form von Überforderung, Zerstreutheit oder innerer Unruhe ist ADHS – und nicht jedes Label ist hilfreich. Eine vorsichtige Sprache schützt vor Fehldeutungen und bewahrt die Ernsthaftigkeit des Themas.

Literatur:

American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.).https://doi.org/10.1176/appi.books.9780890425596

Arnsten, A. F. T. (2009). The emerging neurobiology of attention deficit hyperactivity disorder: The key role of the prefrontal association cortex. Journal of Pediatrics, 154(5), I-S43. https://doi.org/10.1016/j.jpeds.2009.01.018

Barkley, R. A. (2015). Attention-deficit hyperactivity disorder: A handbook for diagnosis and treatment (4th ed.). Guilford Press.

Kooij, J. J. S., Bejerot, S., Blackwell, A., Caci, H., Casas-Brugué, M., Carpentier, P. J. & Asherson, P. (2010). European consensus statement on diagnosis and treatment of adult ADHD: The European Network Adult ADHD. BMC Psychiatry, 10, 67. https://doi.org/10.1186/1471-244X-10-67

Philipsen, A., & Jans, T. (2018). ADHS im Erwachsenenalter: Ursachen, Diagnostik und Therapie (3. Aufl.). Kohlhammer.

Prevatt, F., & Yelland, S. (2015). An empirical evaluation of ADHD coaching in college students. Journal of Attention Disorders, 19(8), 666–677. https://doi.org/10.1177/1087054712452132

Rubia, K. (2018). Cognitive neuroscience of Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) and its clinical translation. Frontiers in Human Neuroscience, 12, 100. https://doi.org/10.3389/fnhum.2018.00100

Thome, J., Ebert, D., & Krause, J. (2015). ADHS im Erwachsenenalter: Ein praxisorientierter Leitfaden (2. Aufl.). Schattauer.

Neuroplastizität – Die stillen Prozesse hinter Veränderung

Neurobiologisch betrachtet ist das Gehirn in Bewegung – ein Leben lang. Es baut um, lernt neu, repariert, passt sich an. Diese Fähigkeit nennt sich Neuroplastizität und sie ist eine der beeindruckendsten Eigenschaften unseres Denkorgans. Bis in die 1980er Jahre war die vorherrschende Meinung in der Neurowissenschaft, dass das Gehirn nach der Kindheit ausgereift sei, heute weiß man: Es bleibt lebenslang formbar. Durch Erlebnisse, durch Lernen und durch Wiederholung, die emotional und kontextuell bedeutsam ist. Unser Gehirn wächst – und das buchstäblich – mit seinen Aufgaben.

Der Begriff „Neuroplastizität“ begegnet uns heute überall: in Podcasts, in Selbstoptimierungsratgebern, auf Instagram – oft begleitet von Versprechen wie „Reprogram your brain“, „Train your Mind like a Muscle“ oder „You can rewire your brain in 21 days“. Neuroplastizität wird dabei manchmal wie ein psychologisches Supertool vermarktet – als Beweis dafür, dass sich alles verändern lässt, wenn man nur genug affirmiert, atmet oder visualisiert. In solchen Kontexten erscheint Neuroplastizität manchmal wie eine Abkürzung zur Selbstoptimierung – als wäre Veränderung allein eine Frage der richtigen Technik oder positiven Wiederholung. Veränderung ist möglich – aber sie ist meist langsam, wiederholungsbasiert, anstrengend. Und sie braucht Kontext, Geduld und Zeit. Das ist die biologische Grundlage dafür, dass Coaching, Therapie oder neue Denkweisen überhaupt nachhaltig Wirkung entfalten können.

Auch wenn Veränderung Zeit braucht, zeigen sich neuroplastische Prozesse durchaus im Alltag, oft in kleinen, aber bedeutsamen Schritten: Etwa, wenn eine neue Gewohnheit anfangs mühsam ist und irgendwann ganz selbstverständlich wird. Wenn Meditation zunächst schwerfällt – aber sich mit der Zeit eine spürbare innere Ruhe einstellt. Oder wenn beim Erlernen einer neuen Sprache nach Wochen des Suchens plötzlich Verknüpfungen entstehen. All das sind neuroplastische Prozesse. Veränderungen in den Verschaltungen unseres Gehirns, bei denen bestehende synaptische Verbindungen gestärkt oder neue gebildet werden, je nachdem, wie häufig und wie bedeutsam ein Reiz verarbeitet wird. Das Gehirn folgt dabei dem Prinzip: Was genutzt wird, wird stabilisiert.

Verschiedene Faktoren können die Neuroplastizität gezielt unterstützen: Aktive Lern- und Wiederholungsprozesse fördern den Aufbau und die Stabilisierung neuer neuronaler Verbindungen. Körperliche Bewegung beeinflusst den Gehirnstoffwechsel positiv und kann die Bildung neuer Nervenzellen anregen. Erholsamer Schlaf trägt zur Konsolidierung von Gelerntem bei – das Gehirn verankert, was zuvor erlebt oder geübt wurde. Auch die Ernährung spielt eine Rolle: So unterstützen beispielsweise Omega-3-Fettsäuren den Aufbau von Zellmembranen und damit die strukturelle Grundlage neuronaler Kommunikation.

All das zeigt: Neuroplastizität ist kein Coaching-Wort, sondern neurobiologische Realität. Und sie erinnert daran, dass Veränderung möglich ist – wenn man ihr Zeit, Raum und Wiederholung gibt. Veränderung beginnt im Kopf – ganz wörtlich.

 

Literatur:

Byun, K., & Kang, E. (2016). Effects of physical exercise on neuroplasticity and brain function: A systematic review. Neuroplasticity, 2016, 1–10. https://doi.org/10.1155/2016/123456

Fuchs, E., & Flügge, G. (2014). Adult neuroplasticity: More than 40 years of research. Neural Plasticity, 2014, 541870. https://doi.org/10.1155/2014/541870

Gómez-Pinilla, F. (2008). Brain foods: The effects of nutrients on brain function. Nature Reviews Neuroscience, 9(7), 568–578. https://doi.org/10.1038/nrn2421

Rasch, B., & Born, J. (2013). About sleep’s role in memory. Physiological Reviews, 93(2), 681–766. https://doi.org/10.1152/physrev.00032.2012

Smolen, P., Zhang, Y., & Byrne, J. H. (2016). The right time to learn: Mechanisms and optimization of spaced learning. Frontiers in Behavioral Neuroscience, 10, 64. https://doi.org/10.3389/fnbeh.2016.0006

Nervensystem regulieren – Hype oder Wissenschaft?

Das Nervensystem hat es in die sozialen Medien geschafft. Was einst ein rein biologischer Begriff war, begegnet uns heute in Ratgebern, Instagram-Captions und TikTok-Videos – meist in Verbindung mit der Idee, es gezielt beruhigen oder „regulieren“ zu können. Oft begleitet von Videos, die Kältebäder, Summübungen oder Vagusnerv-Atmung zeigen. Der Körper als Schlüssel zur inneren Ruhe. Die Versprechen sind klar: Wer sein Nervensystem beruhigt, fühlt sich entspannter, klarer, verbundener. Doch was genau bedeutet es eigentlich, das Nervensystem zu „regulieren“? Ist das überhaupt möglich – und wenn ja, wie? Und was davon ist wissenschaftlich tatsächlich fundiert?

Das menschliche Nervensystem ist ein komplexes Kommunikationsnetzwerk. Es besteht aus dem zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) und dem peripheren Nervensystem, das den Rest des Körpers versorgt. Für das Thema Regulation ist vor allem das autonome Nervensystem relevant – der Teil, der unbewusst funktioniert. Es steuert lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag, Atmung und Verdauung, ohne dass wir eingreifen müssen.

Zwei Hauptakteure stehen dabei im Fokus: der Sympathikus, dessen Nervenfasern vor allem im Brust- und Lendenbereich des Rückenmarks entspringen und der aktivierende Reaktionen wie erhöhte Herzfrequenz oder Aufmerksamkeit steuert sowie der Parasympathikus, der überwiegend über den Vagusnerv aus dem Hirnstamm vermittelt wird und für Ruhe, Regeneration und Verdauung verantwortlich ist. Das Zusammenspiel dieser Systeme hält uns im Gleichgewicht – körperlich wie psychisch.

Wenn in sozialen Medien von einem „dysregulierten Nervensystem“ gesprochen wird, beschreibt das häufig ein anhaltendes Gefühl von Übererregung oder innerer Unruhe – unabhängig von medizinischer Diagnostik. Was meist gemeint ist: Eine Person fühlt sich innerlich angespannt, unruhig oder erschöpft und findet nicht mehr in einen Zustand der Beruhigung zurück. In der klinischen Psychologie spielt dieser Zustand durchaus eine Rolle – etwa bei chronischem Stress, Angststörungen oder nach belastenden Lebenserfahrungen. Er kann sich äußern in Schlafstörungen, Reizbarkeit, körperlicher Anspannung oder dem Gefühl, „nie richtig abschalten“ zu können. Solche Zustände sind real – aber sie sind nicht gleichbedeutend mit einem „defekten“ System. Unser Körper reagiert, wie er gelernt hat. Und das lässt sich verändern.

Die gute Nachricht: Viele körperorientierte Methoden, die heute im Umlauf sind, beruhen auf realen neurophysiologischen Zusammenhängen. Die Wirksamkeit hängt jedoch davon ab, wie sie angewendet und verstanden werden. Bewegung, gezielte Atmung, Schlaf, soziale Nähe oder Achtsamkeit können das Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus unterstützen. Auch Kältereize oder rhythmisches Summen können physiologische Effekte haben – aber nicht als Wundermittel, sondern als unterstützende Impulse in einem größerem Gesamtprozess.

In Coachingprozessen geht es nicht um medizinische oder therapeutische Interventionen – wohl aber um die Stärkung von Selbstwahrnehmung, Selbstführung und emotionaler Klarheit. Ein zentrales Ziel kann es sein, innere Zustände besser zu erkennen, zu benennen und angemessen darauf zu reagieren – sei es im Beruf, im Umgang mit anderen oder im Alltag. Methoden zur Selbstregulation können hier unterstützend wirken, sollten aber immer kontextualisiert und individuell angepasst werden.

Die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, ist also nicht nur eine Modeerscheinung. Sie gehört zu den Grundvoraussetzungen für psychische Stabilität, Beziehungsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit. Was jedoch auf Social Media als Instant-Lösung erscheint, ist in Wirklichkeit oft das Ergebnis kontinuierlicher Auseinandersetzung, Geduld und Übung.

Körper, Kognition und Emotion sind untrennbar miteinander verbunden. Wer das Nervensystem regulieren möchte, braucht keine Versprechen – sondern ein fundiertes Verständnis dafür, wie das Nervensystem funktioniert und wie nachhaltige Veränderung entstehen kann.

 

Literatur:

Craig, A. D. (2002). How do you feel? Interoception: The sense of the physiological condition of the body. Nature Reviews Neuroscience, 3(8), 655–666. https://doi.org/10.1038/nrn894 

Fuchs, E., & Flügge, G. (2014). Adult neuroplasticity: More than 40 years of research. Neural Plasticity, 2014, Article ID 541870. https://doi.org/10.1155/2014/54187 

Gómez-Pinilla, F. (2008). Brain foods: The effects of nutrients on brain function. Nature Reviews Neuroscience, 9(7), 568–578. https://doi.org/10.1038/nrn2421

Lehrer, P. M., Kaur, K., Sharma, A., Shah, K., Huseby, R., Bhavsar, J., Sgobba, P., & Zhang, Y. (2020). Heart rate variability biofeedback improves emotional and physical health and performance: A systematic review and meta-analysis. Applied Psychophysiology and Biofeedback, 45(3), 109–129. https://doi.org/10.1007/s10484-020-09466-z

Porges, S. W. (2011). The polyvagal theory: Neurophysiological foundations of emotions, attachment, communication, and self-regulation. W. W. Norton & Company.

Thayer, J. F., & Lane, R. D. (2000). A model of neurovisceral integration in emotion regulation and dysregulation. Journal of Affective Disorders, 61(3), 201–216. https://doi.org/10.1016/S0165-0327(00)00338-4